Mit Nachtrag zu Meta-Studie 16. 06. 2022 | Gut zwei Wochen bevor eine Expertenkommission der Bundesregierung und dem Bundestag – trotz Querschüssen von Gesundheitsminister Lauterbach – eine Evaluierung der Corona-Maßnahmen vorlegen soll, veröffentlicht das Institut für Weltwirtschaft eine positive eigene Evaluierung. Hoffen wir, dass die offizielle Evaluierung mehr Substanz hat als das windige Ding der Kieler Wirtschaftsforscher.
„Das Bundesministerium für Gesundheit beauftragt eine externe Evaluation zu den Auswirkungen der Regelungen […] im Rahmen der Coronavirus-SARS-CoV-2-Pandemie und zu der Frage einer Reformbedürftigkeit.“ So sieht es das Infektionsschutzgesetz hinsichtlich der Corona-Pandemie vor. Die Bewertung soll durch unabhängige Sachverständige erfolgen, die jeweils zur Hälfte von der Bundesregierung und vom Deutschen Bundestag benannt werden. Sie soll ihr Ergebnis bis zum 30. Juni 2022 vorlegen.
Die Welt berichtete Ende April unter Rückgriff auf interne E-Mails der Expertenkommission über Bemühungen von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, die Evaluierung bis nächstes Jahr zu verschieben. Damit blitzte er allerdings bei den Bundestagsfraktionen ab. Davon unbeirrt haben Lauterbach, die Bundesregierung und die Ministerpräsidenten der Länder seither an der Vorbereitung von neuen bzw. alten Coronamaßnahmen für den Herbst gearbeitet, ohne die Evaluierung abzuwarten.
Die Süddeutsche Zeitung bekam einen frühen Entwurf des Expertenurteils zugespielt, der sehr schlechte Ergebnisse für die Corona-Politik enthielt, und ließ ihn von ungenannten „Experten“ zerpflücken.
Da kam es sicherlich wie gerufen für die Regierung und den Gesundheitsminister, dass das Institut für Weltwirtschaft in Kiel am 13. Juni eine Studie (auf Englisch) veröffentlichte, die den meisten nichtmedizinischen Corona-Maßnahmen eine hohe Wirksamkeit bescheinigte.
Damit kann dann ein möglicherweise negatives Verdikt der von Bundesregierung und Bundestag beauftragten Expertenkommission relativiert werden.
Autoren sind Alexander Sandkamp vom IfW und Anthonin Levelu von der Universität Paris Dauphine. Ein Auftraggeber ist nicht angegeben.
Laut der Pressemitteilung des Instituts (deutsch) zeigte sich:
„Die Ergebnisse belegen eindeutig, dass die einzelnen Maßnahmen für die Bekämpfung der Corona-Pandemie erfolgreich sind, auch wenn sich das genaue Ausmaß von Land zu Land unterscheiden kann. Die Studie bietet damit auch die von der Politik oft geforderte wissenschaftliche Begründung für einzelne Infektionsschutzmaßnahmen.“
Die Studie fand weite Verbreitung in den Medien. In einem Bericht der Tagesschau heißt es:
„Abgesehen von medizinischen Maßnahmen wie Impfungen halfen gegen die Verbreitung des Coronavirus laut einer Studie besonders Informationskampagnen und Schulschließungen. Stoffmasken brachten demnach keinen statistisch messbaren Erfolg.“
Was könnte es für die Regierung Besseres geben?
Untaugliches Erfolgsmaß
Schaut man allerdings genauer hin, so zeigt sich, dass die vollmundige Behauptung der Kieler durch ihre statistische Analyse nicht gedeckt ist.
Das Erfolgsmaß ist die Veränderung der sogenannten Reproduktionszahl R zehn Tage nach Einführung einer Maßnahme. Sie gibt an, wie viel andere ein Infizierter im Durchschnitt ansteckt. Je höher R, desto schneller breitet sich eine Infektionskrankheit aus. Bei Werten dauerhaft unter eins läuft eine Welle aus, bei Werten dauerhaft über eins werden früher oder später alle infiziert.
Der Studie zufolge waren unter den untersuchten „nicht-pharmazeutischen“ Maßnahmen Informationskampagnen und Schulschließungen am effektivsten. Sie hätten die Reproduktionszahl, um 0,35 bzw. 0,24 gesenkt. Corona-Tests (-0,23), die Kontaktnachverfolgung (-0,15) und internationale Reisebeschränkungen (-0,14) folgen. Auch die Absage öffentlicher Veranstaltungen, eine verringerte Präsenz in Betrieben, etwa durch Homeoffice, und Einschränkungen bei privaten Treffen, beispielsweise über eine maximale Personenanzahl, hätten den R-Wert gesenkt, aber offenbar eher geringfügig.
Das mutige Urteil der Kieler über die Maßnahmen stützt sich also allein darauf, dass kurze Zeit nach Einführung der jeweiligen Maßnahmen eine Abnahme von R zu beobachten ist. Darüber, wie dauerhaft dieser Effekt ist, können sie kaum etwas sagen. (Zum Beleg möchte ich auf den – wohl nur für Fachleute genießbaren – vorletzten Absatz von Seite 15 der Studie verweisen.)
Den Erfolg von Pandemie-Maßnahmen an der kurzfristigen Wirkung auf R festzumachen, ist sehr fragwürdig. Zu Anfang der Pandemie hieß es tatsächlich, Hauptziel sei die Abflachung der Infektionskurve, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Dazu würde dieses Erfolgsmaß passen. Die Zielsetzung wurde dann aber bald und mehrfach geändert und die Maßnahmen beibehalten und intensiviert.
Im Zuge der Pandemie wurde immer wieder beobachtet, dass Länder oder Regionen, zunächst im Vergleich sehr geringe, zu einer späteren Zeit aber sehr hohe Infektionsraten hatten, und umgekehrt. Das deutet auf die Möglichkeit hin, dass Absenkungen der Infektionsrate oft nur ein temporärer Erfolg sind. Die Studie kann dazu nichts sagen.
Keine Auseinandersetzung mit sinnvolleren Erfolgsmaßen
Die Beschränkung auf die kurzfristige Wirkung auf R erstaunt, denn im Kapitel zur bereits vorhandenen Literatur zum Thema werden überwiegend Studien referiert, die gehaltvollere Erfolgsmaße wie Verstorbene oder Hospitalisierungen verwenden. Die Kieler Studienautoren nehmen nicht ausdrücklich Stellung dazu, warum sie auf diese Maße verzichten. Sie schreiben nur (übersetzt):
„Der Vorteil der Reproduktionsrate ist, dass sie direkt länderübergreifend vergleichbar ist. Außerdem hat sie eine sehr praktische Anwendung für Gesundheitsverantwortliche, weil sie erlaubt zu ermitteln, wie man mit einem Ausbruch am besten umgeht und wie man Maßnahmen kurzfristig anpassen kann.“
Bei den Nachteilen wird auf ungenaue Erfassung und Abhängigkeit von der Testintensität hingewiesen.
Spezielle Maßnahmen zum Schutz der Risikogruppen werden nicht untersucht, „weil sie keine große Relevanz für die Ausbreitung des Virus haben, sondern eher auf die Todesfallrate, die unsere Untersuchung nicht betrachtet“. Allein dieser Satz verdeutlicht, warum die Studie allenfalls eines sehr eingeschränkte Erfolgsbewertung von Maßnahmen zulässt.
Würde man versuchen, aus den von verschiedenen Ländern im Laufe der Pandemie eingeführten oder nicht eingeführten Maßnahmen anhand der Kieler Ergebnisse auf die Krankheitslast in den jeweiligen Ländern im Laufe der Pandemie zu schließen, würde man sehr wahrscheinlich kompletten Schiffbruch erleiden.
Denn nicht nur sagt die Studie nichts über die langfristige Wirkung der Maßnahmen auf die Ausbreitung des Virus aus, und schon gar nichts über die daraus folgende Krankheitslast. Ein großer Teil der Unterschiede zwischen Ländern – vermutlich der größte – wird darüber hinaus sogenannten länderspezifischen Konstanten (country-specific fixed effects) zugeschrieben, die noch dazu von Monat zu Monat variieren (time-varying). Es wird also nur ein – vermutlich kleiner – Teil der Unterschiede zwischen Ländern tatsächlich erklärt.
Fazit
Die als Kieler Arbeitspapier veröffentlichte Studie belegt keinesfalls wie behauptet „eindeutig, dass die einzelnen Maßnahmen für die Bekämpfung der Corona-Pandemie erfolgreich sind“. Sie belegt lediglich, dass man mit kontaktbeschränkenden Maßnahmen mindestens kurzfristig die Ausbreitung einer Infektionskrankheit dämpfen kann. Kein überraschendes und auch kein weitreichendes Ergebnis.
Nachtrag vom 17.6. zu einer Johns-Hopkins Meta-Studie
Als ein Beispiel, wie man es besser machen kann, sei eine Meta-Studie des Johns Hopkins Institute für Applied Economics, Global Helath and the Study of Business Enterprise angeführt, also eine Studie, die die Ergebnisse vorhandener Studien analysiert und zusammenführt. Sie kommt zu dem Ergebnis:
„Diese Meta-Analyse kommt zu dem Schluss, dass Lockdowns wenig bis gar keine Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit haben, aber dort, wo sie eingeführt wurden, enorme wirtschaftliche und soziale Kosten verursachten. Daher sollten Lockdowns nicht als pandemiepolitisches Instrument eingesetzt werden.“